Kampf gegen Polio wichtiger denn je? Stellungnahme der Gesellschaft für Virologie
11/11/2024
Kampf gegen Polio wichtiger denn je? Stellungnahme der Gesellschaft für Virologie
Die nationale Kommission für die Polioeradikation (NCC) kritisiert in einem Brief an das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) die für 2025 geplante Budgetkürzung für die Globale Polio Eradikationsinitiative (GPEI) und weist auf die Dringlichkeit hin, den Kampf gegen Polio fortzuführen.
Auch die Gesellschaft für Virologie hält die vorgesehene Budgetkürzung für problematisch, da die derzeitige globale Krisenlage ein großes Risiko für das Wiederaufflammen der Poliomyelitis-Erkrankung („Kinderlähmung“) in Regionen darstellt, die seit vielen Jahren als frei von Polioviren gelten. Durch die globale Reisetätigkeit können Poliovirusinfektionen auch bei uns innerhalb kürzester Zeit durch asymptomatisch Infizierte unerkannt eingeschleppt werden und bei Übertragung des Virus auf unzureichend Geimpfte zu schweren Erkrankungen, lebenslangen Behinderungen und Todesfällen führen.
Laut Unicef hat sich die Anzahl der an Polio erkrankten Kinder in Krisenländern in den letzten fünf Jahren verdoppelt, was jüngst durch den ersten Poliofall in Gaza seit ca. 25 Jahren verdeutlicht wurde. Polioviren sind hochinfektiös und verbreiten sich in erster Linie über fäkal-orale Transmission. Begünstigt werden solche Übertragungen insbesondere durch schlechte hygienische Bedingungen in Regionen mit begrenzter Gesundheitsversorgung oder in Kriegsregionen. Größere Ausbrüche können daher nur verhindert werden, wenn Infektionen frühzeitig erkannt und durch geeignetes Hygienemanagement schnellstens isoliert werden und ein ausreichender Impfschutz in der Bevölkerung (95% Impfquote unter Kindern) besteht. Beides ist besonders in Krisenregionen nur unter sehr erschwerten Bedingungen möglich und bedarf besonderer Programme, wie der GPEI, und entsprechender finanzieller Unterstützung. Nur so war es möglich, dass mittels gesellschaftspolitischen Einflusses und in einer großen Impfkampagne ca. eine halbe Million Kinder während temporärer Waffenpausen in Gaza gegen Polioviren geimpft werden konnten, um entstandene Impflücken zu reduzieren. Diese Impflücken sind aber hier noch keineswegs vollständig geschlossen, ebenso wenig wie in vielen anderen Krisenregionen Afrikas und Asiens.
Der Erfolg der globalen Impfkampagne zeigt sich darin, dass von den existierenden drei Polioviren (Typ 1,2,3) derzeit nur noch das Wildtypvirus des Typs 1 zirkuliert und das weltweit nur noch in zwei Ländern. Unzureichende Impfquoten bergen jedoch das Risiko des Reimports und der erneuten Zirkulation von Polioviren in Regionen, in denen das Virus bereits eliminiert war. Zur Unterbrechung von Infektionsketten ist ein effektiver Schutz gegen die initiale Infektion notwendig, der durch die Impfung mit lebend-attenuierten Impfviren möglich ist.
Lebend-attenuierte Impfviren können jedoch in seltenen Fällen zum krankheitsauslösenden Virus zurückmutieren. Diese vakzinabgeleiteten Polioviren werden wie Wildtypviren ausgeschieden und können sich unter Ungeimpften ausbreiten. Sie können vergleichbar zu Wildtypviren eine Poliomyelitis auslösen, wie es bei dem Kind aus Gaza und weiteren Fällen nachgewiesen wurde. Laut WHO wurden zwischen 2020 und 2024 weltweit 3.390 solcher Fälle registriert. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass weniger als 1% aller Infizierten überhaupt eine Poliomyelitis mit Lähmungen entwickeln, ist dies ein Hinweis darauf, dass die Zahl der Infektionsfälle aufgrund fehlender Herdenimmunität in diesen Regionen vermutlich bereits deutlich höher ist, was die Dringlichkeit der Impfkampagnen unterstreicht.
In vielen Industrieländern, in denen Polio als eliminiert gilt, so auch Deutschland, werden Totimpfstoffe verwendet, die zwar eine Erkrankung, nicht jedoch die eigentliche Infektion und Weitergabe der Viren sicher verhindern können. Somit könnten sich auch hier Polioviren grundsätzlich wieder unter Ungeimpften verbreiten, wenn die Impfquoten sinken.
Laut NCC werden vakzinabgeleitete Polioviren derzeit global in 41 Ländern nachgewiesen, was die Notwendigkeit weltweiter Surveillanceprogramme (z.B. über Poliovirusnachweise in Abwasser) hervorhebt, um Risiken frühzeitig zu erkennen.
Daher stehen die Erfolge, die man bislang bei der Polioeradikation erzielt hat, noch immer auf wackligen Beinen und wir dürfen in unseren Bemühungen in diesen Zeiten nicht nachlassen. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass das Aufholen von Rückschlägen deutlich größerer Anstrengungen bedarf als eine konsequente Fortführung des laufenden Programms.
Die Kommission Immunisierung und der Vorstand der GfV
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